Bela Tabor (Tábor Béla)
Zwei Wege des Judentums
Nachwort zur zweiten Ausgabe, 1990
1.
Die erste Ausgabe von "Zwei Wege
des Judentums" erschien Anfang August 1939, vier Wochen vor Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges. Mit dem Schreiben hatte ich im Januar 1938 begonnen,
fünfzig Tage vor dem Anschluß und etwa zwei Monate nach jener Győrer Rede,
in der Ministerpräsident Kálmán Darányi das erste Judengesetz ankündigte.
Diese
wenigen chronologischen Daten beleuchten bereits den historischen Rahmen, in
dem das Buch entstand. Niemand zweifelte daran, daß die Győrer Ankündigung
nicht nur ein Gesetz zur Einschränkung der Rechte des Judentums einläutete,
sondern auch eine Eskalation des Feldzuges, der schon seit langem gegen die
ungarischen Juden geführt wurde. Soviel entnahmen sie alle der Rede; mehr noch
nicht. Die meisten begriffen die Ankündigung nicht als Vorboten der
Katastrophe, sondern lediglich als Alarmzeichen für die zunehmende Bedrohung
ihrer Daseinsform. Aber selbst dies drang nur gedämpft in ihr Bewußtsein, denn
sie lebten ja schon seit zwei Jahrzehnten mit dem Wissen um die Bedrohung.
Aus
dieser Abgestumpftheit wollte ich sie mit "Zwei Wege des Judentums"
aufrütteln. Ich hoffte, das Buch werde einen Beitrag zur geistigen
Mobilisierung der ungarischen Juden leisten. Dazu war es notwendig, über den
inneren - und vom Wesen her esoterischen - Gehalt ihres Judentums zu
informieren, auf ihre spezifische und heikle historische Situation in der
westlichen Kultur mit den sich daraus ergebenden Aufgaben hinzuweisen. Ich
mußte auftreten gegen Selbstmitleid und Selbstgenügsamkeit sowie die bei
ungarischen Juden weitverbreitete Neigung, den Grund allen Übels immer
außerhalb von sich selbst zu suchen. Die hohen Maßstäbe, die ihnen
abverlangten, das eigene Verhalten, die eigenen Taten und Wert-Optionen nicht
an den Fehlern anderer zu messen, sondern an der historischen Selbstverantwortung,
sollten eine sich auf Selbstkenntnis stützende, selbstbewußte, sich selbst
gegenüber strenge jüdische Generation heranziehen. Eine Generation, die – ohne
Schwächung der gemeinschaftlichen Identität – all das in sich auszumerzen vermag,
was den Horizont einschränkt, und sich - ohne Beeinträchtigung der universellen
Sensibilität - die althergebrachten Gemeinschaftswerte aneignet. Wieviel Zeit
dafür zur Verfügung stünde, wußte niemand; daß es nicht viel sei, meinte wohl
jeder real Denkende; daß schier keine Zeit mehr blieb, weil die Katastrophe vor
der Tür stand, ahnte noch niemand.
Das
halbe Jahrhundert der Emanzipation und die folgenden zwei Jahrzehnte des
Antisemitismus hatten bei den ungarischen Juden zu einer Identitätsstörung
geführt. In den Zeiten vor der Emanzipation und in den Regionen jenseits der
Karpaten brauchten die Juden nicht gegen solche Krisen anzukämpfen. Sie lebten
ihr traditionelles Leben, ohne Voreingenommenheit, vor keinem Spiegel. Doch
eine Vielzahl der ungarischen Juden - natürlich nicht die streng
Traditionsbewußten, wohl aber die im Leben der ungarischen Gesellschaft und der
jüdischen Öffentlichkeit besonders Aktiven - war seelisch überaus stark daran
interessiert, die eigene Geschichte zeitlich mit der Emanzipation zu beginnen
und räumlich westlich der Karpaten zu lokalisieren. Dies war im Grunde der
historische Wunschtraum, den sie Assimilation nannten. Mit den Werten der
modernen westlichen Kultur aufgewachsen, konnte man nicht mehr durch einfachen
Fingerzeig evident machen, daß das Judentum nicht bloß eine Konfession, sondern
noch etwas anderes sei. Ihre Führungsschicht versuchte zwar, das Dasein auf die
Konfession zu reduzieren, indem sie ständig betonte, daß das Judentum eine
Religion und nichts anderes sei, doch das unmittelbare Judentum-Erlebnis der
Juden stand in irritierendem Widerspruch zu dieser Behauptung. Allerdings
erlebten sie auch ihr Ungartum gleichermaßen unmittelbar, zumindest der
überwiegende Teil der ungarischen Juden. Dies führte zu einem weiteren
Widerspruch. Man hätte die Identitätsstörung nur durch eine Analyse dieses
Widerspruch-Geflechts beheben können. Doch die geistige Elite des ungarischen
Judentums unternahm weder in dem halben Jahrhundert der Emanzipation noch in
den folgenden zwei Jahrzehnten einen ernsthaften Versuch, zu klären, was diese
augenfällige Zweiseitigkeit - als Religion und Volk - bedeutet und was für eine
Einheit sie birgt.[1]
Das
Versäumnis, die Identität ins Bewußtsein zu rufen, hatte keine spürbaren
Konsequenzen, solange die günstigen Umstände der Emanzipationszeit der
Judenheit Schutz bot. Da es ihr aber an authentischem Identitätsbewußtsein
mangelte, wurde sie zu einem Spielball der Verhältnisse, und als diese eine
ungünstige Wende nahmen, überfiel sie lähmende Ratlosigkeit. Die Menschen
besaßen keine inneren Kraftreserven für eine seelisch-geistige Autonomie, mit
der sie die verschärften äußeren Bedingungen hätten ausgleichen können.
Grundsatz ihres Verhaltens wurde der Minimalismus: stets jener Zielsetzung,
Lösung, Deutung, Lagebewertung den Vorzug zu geben, die den geringsten Willen
und die geringste Sensibilität verlangte. Aus diesem Grund blieb ihnen auch die
wahre Bedeutung der Gyõrer Rede verborgen. Sie wollten glauben, daß nur ihrer
gewohnten Lebensform Gefahr drohe, und meinten, dem ließe sich mit kleineren
Kurskorrekturen begegnen.
Wer
in diesen Krisenzeiten wenigstens versuchen wollte, die seelische und geistige
Widerstandskraft der ungarischen Juden zu mobilisieren, mußte vor allem diesen
Minimalismus ausschalten und sie dazu bringen, sich nicht auch selbst als einen
äußeren Umstand zu betrachten. Um flexibel auf die stetig wachsende Bedrohung
reagieren zu können, war Geistesgegenwart notwendig. Und über Geistesgegenwart
verfügen Gemeinschaften wie Individuen, wenn sie bei der Bewältigung von
Situationen nicht gezwungen sind, ihr Daseinszentrum direkt zu mobilisieren -
denn ein solcher Versuch erstickt nahezu zwangsläufig in Krampf und Panik.
Vielmehr genügt es, die Energien aus den Kapillaren des eigenen körperlich-seelisch-geistigen
Organismus auf die jeweilige Situation zu richten: Die Energien des Zentrums
strömen hier so reichlich, frei und organisch, daß sie ganz nach Bedarf dosiert
werden können.
Die
Bedingung einer solchen Geistesgegenwart ist das, was Hölderlin an der
Lebensform der griechischen Polis faszinierte: "jene Energie und
Konsequenz, die auch in das Entfernteste die Übereinstimmung mit dem
Mittelpunkt trägt." Damit formulierte er nicht nur das Maß der
griechischen Polis, sondern jeder gemeinschaftlichen Identität. Das besagte
Zentrum antwortet auf die Frage: Was ist das, womit sich die Gemeinschaft auf
der höchsten Ebene identifizierte? Das Maß der Lebensform ist die Energie und
Konsequenz, mit der die Gemeinschaft die höchste Ebene ihrer Identifizierung mit sich
selbst noch am äußersten Randpunkt ihres Daseins widerspiegelt. In dem Maße,
wie eine Gemeinschaft diesen Anspruch erfüllt, wird sie auch über genug
Geistesgegenwart verfügen, um den Herausforderungen der Geschichte zu begegnen.
Dazu bedarf es erstens einer Elite, die die höchste Identitätsebene der
Gemeinschaft kennt, und zweitens einer Kommunikation zwischen der Elite und den
übrigen Schichten der Gemeinschaft, die es ermöglicht, ja selbstverständlich
macht, daß die gesamte Gemeinschaft in irgendeiner Form für die Wertewelt der
Elite empfänglich ist.
Das
Buch "Zwei Wege des Judentums" wollte die Judenfrage zur Frage der
Juden machen, wobei es den Schlüssel zur Lösung in der Anhebung der
Identitätsebene und in der freien Zirkulation der geistigen Energien des
Judentums sah - in einer Spiegelung der höchsten Identitätsebene, die auch die
entfernteste Peripherie erreicht. Eine ebenso konsequente Anwendung der
biblischen Tradition wie ein Mittel zur Realisierung ist das gestrenge
Festhalten an der biblischen Wertordnung, an der auf permanenter
Spiritualisierung der Materie und des Materiellen basierenden Opferordnung.
Ob
diese Überlegung, die Anwendung des biblischen Modells, der spirituellen
Wertordnung des Opfers in der modernen wirtschaftszentrischen Gesellschaft
utopistisch war, ist eine Frage, die ihren Zweck zweifach verfehlt. Erstens
kennt das biblische Modell keine Zeit, die es an sich binden kann: Es ist nie
mit seiner zeitlich fixierten Form identisch, sondern immer nur mit den
Transformationen seiner selbst. Wer anderer Auffassung ist, der hält die Bibel
für den Mythos einer vergangenen Zeit, das heißt statt sich mit ihr zu
identifizieren, wandert er ab in eine fremde Religion. Hier trifft nämlich
Campbells Behauptung, Mythos sei fremde Religion, tatsächlich zu. Zweitens
könnten diese Frage nur jene 600 000 ungarischen Juden authentisch beantworten,
die von dem in der Konzeption vermittelten Opferbefehl unmittelbar angesprochen
wurden. Sie aber, Ungarns letzte große galut-Scharen, lassen sich nicht mehr
befragen.
Galut
ist der hebräische Ausdruck für das, was man im allgemeinen griechisch diaspora
nennt. Doch anders als diaspora, was Zerstreuung bedeutet, wird galut generell
mit Verbannung übersetzt. Der Ausdruck stammt aus der Bibel, schon Jesaja und
Jeremia benutzten ihn für die in babylonische Gefangenschaft verschleppte
Gemeinschaft der Juden. Später bürgerte er sich als Begriff für die jüdische
Diaspora ein. Heute meint er natürlich keine echte Verbannung mehr, sondern
erinnert an die spät- und postbiblischen Zeiten der jüdischen Geschichte und
versinnbildlicht die Identifizierung damit. Man könnte von einem
religionsgeschichtlichen Symbol sprechen, wenn das Wort Religion das Wesen des
Judentums erschöpfen würde. So kennzeichnet es die gleichen Zweier-Einheiten
wie das Judentum selbst: ein einheitliches religions- und volksgeschichtliches
Symbol, das eine nicht ohne das andere, wobei aber das religionsgeschichtliche
Moment dominiert. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der
volksgeschichtliche Aspekt mit dem Zionismus wieder stärker an Bedeutung
gewann. Erst seitdem gilt dieses Symbol erneut für die außerhalb des
Judenstaates (Israel) lebenden Juden, zur Unterscheidung von den dort
ansässigen. Doch die geistige Bedeutung des Wortes bezieht die politische nicht
mit ein. Die geistige Bedeutung impliziert die im jüdischen Staat lebenden
Juden ebenso wie die auswärtigen, und das bleibt so - so lebt es im religiösen
Bewußtsein des Judentums -, bis der Messias erscheint und Israel wieder zum
Heiligen Land wird. Bis dahin aber bedeutet galut die jüdische
Schicksalsgemeinschaft, in der Verfolgung und Bedrohung seit zwei Jahrtausenden
eine wahrhaft große Rolle spielten, auch wenn die Epochen der Verfolgung mit
Glanzzeiten wechselten.
Vor
dem Zweiten Weltkrieg war die osteuropäische galut-Gemeinde die größte. In der
Emanzipationszeit und den nachfolgenden zwei Jahrzehnten fiel es besonders auf,
daß sich die ungarischen Juden (oder ihre richtungweisende Schicht) von den
osteuropäischen Juden, die weltweit etwa die Hälfte aller Juden ausmachten,
abgrenzen wollten. Dieses Bestreben war einerseits eine natürliche Folge
dessen, daß die ungarischen Juden bereits im Bannkreis der modernen westlichen
Kultur lebten, freilich in deren östlichstem und der Tradition am nächsten
stehenden Grenzgebiet; andererseits war sie ein Symptom der oben erwähnten
Identitätsstörung. Und bei näherer Betrachtung offenbart sie das gleiche
Versäumnis, das auch die Identitätsstörung verschuldete: das Ausbleiben von
Analysen, die hätten aufzeigen können, welche reale Einheit die reale
Doppelheit des jüdischen Daseins birgt. Hätte man diese Aufgabe bewältigt, wäre
auch die Abgrenzung vom osteuropäischen Judentum überflüssig gewesen. Sie hätte
das historische Grenzdasein des Judentums verdeutlicht, das sich in keiner
geschichtlichen Daseinsform erschöpfen kann: weder in einer, die die
Verschiedenheit zwischen Judentum und Umwelt unkenntlich machen will, noch in
einer, die diese Erkennbarkeit durch Überbetonung volkskundlicher, historische
Phasen fixierender Spezifika sichern will.
Die
Abgrenzung sei nötig, befand die illusionistisch-konformistische Schicht der
ungarischen Juden, die das Leben der Gemeinschaft in wachsendem Maße
beeinflußte, weil die osteuropäischen Juden in ihrer Lebensform einen
auffälligen und herausfordernden Kontrast zu dem verkörperten, was sie selbst
anstrebte: unkenntlich zu machen, was sie vom Umfeld unterschied. Im Zeichen
der Eingleisigkeit und Zeichenblindheit, die der Neophyten-Rationalismus der
Aufklärung hinterlassen hatte, konnte man sich nur diese uniformisierende
Assimilation als einzig gangbaren Weg zur Harmonisierung des Verhältnisses
zwischen den verschiedenen ethnischen Gemeinschaften vorstellen. Dem Moloch des
Mimikry opferten die ungarischen Juden sogar die eigene Identität: Um ihr
Anderssein vor der Umwelt unkenntlich zu machen, mußten sie eine Lebensform
wählen, in der sie sich selbst nicht mehr erkennen konnten. Der Gefahr der
kollektiven Schizophrenie versuchten sie dabei durch die Abgrenzung vom osteuropäischen
Judentum zu begegnen. Auf sie projizierten sie die Ablehnung des eigenen
Andersseins und machten sich selbst glauben, daß dieser Widerwille ihnen gelte
und nicht etwa dem, was sie selbst vom Umfeld unterscheidet. Dieser Mechanismus
der Projizierung ist in der modernen Psychologie wohlbekannt.
In
Wirklichkeit wollten sie sich natürlich von der jüdischen
Schicksalsgemeinschaft loslösen. Und letztlich kam die grausame Logik der
Geschichte zur Geltung, als die brutale Gewalt sie dann zwang, ihre Verschiedenheit,
die sie verschwinden lassen wollten, für die Umgebung kenntlich zu machen, und
sie mit jenen, von denen sie sich abgrenzen wollten, in die intimste
Schicksalsgemeinschaft stieß: die Schicksalsgemeinschaft der Vernichtung.
Galut
bedeutet nicht nur Verbannung. Das hebräische Wort hat noch eine zweite
Bedeutung: Enthüllung des Verborgenen, auf Griechisch Apokalypse.
Apokalypto
heißt, irgendetwas Verborgenes aufdecken, offenbaren, enthüllen, egal ob es
grauenvoll ist oder nicht. Gleich der Wurzel des hebräischen Wortes galut:
gala. Doch die im Hellenismus entstandene jüdische apokalyptische Literatur
enthüllt tatsächlich in grauenvollen Visionen die Geheimnisse vom Ende der
Zeiten, und zwar so suggestiv, daß sich die Bedeutung von apokalyptisch - dem Ausdruck,
der den Akt der Aufdeckung des Verborgenen beim Namen nennen soll - im
Bewußtsein der langen seither verstrichenen Jahrhunderte gewandelt hat.
Mittlerweile drückt das Wort nicht mehr das Aufdecken von irgendetwas
Verborgenem aus, ja eigentlich überhaupt kein Aufdecken, sondern das
unbeschreiblich Grauenvolle selbst. Diese Sinndeutung erlangte das Wort in den
Kulturen, die auf den Trümmern des Hellenismus entstanden, und so bürgerte es
sich auch in der ungarischen Literatursprache ein.
Apokalyptisch
hat aber nicht nur diese übertragene Bedeutung. Das hebräische Wort gala kommt
in seiner doppelten Bedeutung von Verbannung beziehungsweise Aufdeckung des
Verborgenen etwa 250 mal in der Bibel vor. Zu knapp fünfzig Prozent meint es
die Aufdeckung des Verborgenen und beschränkt sich dabei keineswegs auf die
Offenbarung des Endes. Die griechische Bibelübersetzung Septuaginta, die auf
eine relativ frühe Periode des Hellenismus zurückgreift, verwendet bei dieser
Wiedergabe die Wortgruppe apokalypto/apokalypsis. Die übertragene Bedeutung des
Wortes verbreitete sich erst mit der apokalyptischen Literatur, jener Literatur
eschatologischer Thematik, die in einer späteren Phase des Hellenismus in den
Vordergrund rückte.
Daß
im Hebräischen dasselbe Wort für Verbannung und für Aufdeckung des Verborgenen
steht, spricht jedenfalls dafür, daß die jüdische Geistestradition in einer
Tiefenschicht einen - durchaus plausiblen - Zusammenhang zwischen den beiden
Bedeutungen spürt. Die beiden hängen ebenso zusammen wie Heim und
Verborgenheit, und galut ist ihre Negierung. Es bedeutet zum einen
Heimlosigkeit, zum anderen Unverborgenheit. Oder genauer: Heimlos-Machen und
Unverborgen-Machen. Die Verbannung - Exil, Deportation - beraubt den Verbannten
seines Zuhauses, die Apokalypse beraubt das Geheimnis seiner Verborgenheit. In
der apokalyptischen Literatur zum Beispiel dessen, was uns, im Schoße der
Zukunft verborgen, erwartet. Der gemeinsame Sinn der beiden Bedeutungen von
gala lautet: in ein fremdes Milieu zwingen.
Das
etymologische Wörterbuch der ungarischen Sprache definiert die Bedeutung von
apokalyptisch folgendermaßen: ähnlich den Greueln des Jüngsten Gerichts,
grausig.
2.
Ja, so ging die Geschichte nach dem
August 1939, nach dem Erscheinen des Buches weiter: "apokalyptisch -
ähnlich den Greueln des Jüngsten Gerichts, grausig." Dafür gibt es keinen
Namen. Man pflegt es zu umschreiben, wenn auch nur mit einem Wort. Manche sagen
Holocaust - griechisch für Brandopfer; manche Shoa - hebräisches Bibelwort für
Vernichtung, Katastrophe, äußerste Gefahr; manche Auschwitz - pars pro toto,
eines für die vielen Vernichtungslager. In Wirklichkeit die Ermordung von sechs
Millionen Juden, überwiegend Ost- und Mitteleuropäer, unter ihnen 600 000
Ungarn. Männer und Frauen, Alte und Junge, Kinder an der Schwelle ihrer Zukunft
und Kindlein, die die Schwelle des Lebens gerade erst hinter sich haben,
Familien und Fremde, Verliebte und Unverliebte, Glückliche und Unglückliche,
Gesunde und Kranke, Sorglose und Sorgenvolle, Freunde, Feinde und Gleichgültige,
Menschen mit der berauschenden Verantwortung des Geistes im Herzen und andere,
die sich damit begnügen, den Tag zu genießen. Wie könnte denn all dies zur
Geschichte gehören? Der Tod, der unersetzbare Tod, jedermanns eigener Tod liegt
immer diesseits der Geschichte. Die Geschichte macht den Tod zu ihrem Material,
nutzt den Tod als Baustoff. Natürlich nicht nur den Tod: auch das potenzierte
Leben, den Augenblick. Geschichte ist Brücke zwischen potenziertem Leben und
Tod. Ein rastloses Wandern, ein Hin und Her zwischen ewigem Leben und ewigem
Tod. Doch das persönliche Leben, das individuelle Schicksal befindet sich
diesseits der Geschichte, obgleich jeder Einzelne für sich Nutznießer und Opfer
der Geschichte sein kann.
Dennoch
ist dies das erste der drei Ereignisse, die den Epochenwechsel in der jüdischen
Geschichte unmittelbar auslösten. Das zweite: die Gründung des neuen jüdischen
Staates. Das dritte: die Entropisierung des Symbols.
Nehmen
wir also Abschied von den sechs Millionen unersetzbarer Einzelner und geben wir
sie ihrer gemeinsamen letzten Ruhestätte anheim, der Geschichte, die nur
Diagonalen kennt. Auf diese Weise wurde die Vernichtung der sechs Millionen
Juden, auf einen historischen Tatbestand reduziert, insofern zum ersten
Beweggrund für den Epochenwechsel in der jüdischen Geschichte, als sie zum
einen die geographische Verteilung der restlichen Juden grundlegend veränderte,
was auch eine Verlagerung der geistigen Schwerpunkte des in verschiedenen
Teilen der Welt lebenden Judentums nach sich zog, und zum anderen ihre
traumatische Wirkung eine unauslöschliche Spur im Verhältnis zur Welt und zum
eigenen Judentum hinterließ.
Beide
Momente sind eng verflochten mit dem zweiten und dritten epochalen Ereignis,
mit der Gründung des neuen jüdischen Staates und mit der Entropisierung des
Symbols.
In
Ost- und Mitteleuropa entging nur ein Bruchteil des Judentums der Vernichtung.
Aber selbst unter denen, die nach dem Krieg in ihre alte Heimat zurückkehrten,
schien vielen der Gedanke unerträglich, in einer Umgebung leben zu müssen, wo
alles nur an die Vergangenheit, an die ermordeten Freunde und Verwandten
erinnert, wo sie im Straßengewimmel auch den Komplizen der Mörder begegnen
könnten. Sie entschieden sich auszuwandern. Und obwohl ihnen die Welt offen stand
in den ersten Nachkriegsjahren, fühlten sich die Emigranten - neben Westeuropa
- vor allem von zwei Mittelpunkten angezogen: von Amerika und dem neuen
jüdischen Staat.
Was
den Epochenwechsel in der jüdischen Geschichte wirklich auslöste, das war der
Verlust des osteuropäischen Judenzentrums (hier ist die große Anzahl der Juden,
die in der Sowjetunion überlebten - und sofern sie ihr Judentum bewahrten -,
außer acht zu lassen, weil sie vom Weltjudentum getrennt waren). Dabei hatte
gerade dieses Zentrum in dieser Region - und durch seine weitreichende
Ausstrahlung auch anderswo - die Kontinuität der Tradition gewährleistet. Für
Europa und Amerika war es der Hüter des Symbols, es nährte die uralten oder
zumindest seit einigen Jahrhunderten als uralt empfundenen Symbole mit der
Wärme seiner rundum kristallisierten Daseinsform.
Jetzt
war das osteuropäische Judenzentrum gespalten, geometrisch gesagt: der Kreis
mit seinem Mittelpunkt wurde zu einer Ellipse mit zwei Brennpunkten. Den einen
Brennpunkt verkörperte das Judentum der Vereinigten Staaten, den anderen
Israel. In diesen beiden Ländern leben nun die meisten Juden, und wenn wir die
rund 2,5 Millionen sowjetischen Juden beim statistischen Vergleich
unberücksichtigt lassen - was der Realität entspricht, vor allem wenn man
bedenkt, daß sie in Scharen auswandern, in erster Linie eben nach Israel und
zum Teil in die USA -, dann verlagern sich die Proportionen noch mehr zugunsten
der beiden Fokusse.
Außerdem
gibt es noch ein wichtigeres Moment, und das betrifft die Art und Weise des
Epochenwechsels: von wo nach wo das Judenzentrum gelangte, als sein einer
Mittelpunkt in zwei Brennpunkte zerfiel. An die Stelle der alten Verhältnisse
mit ihrem wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell gleichermaßen
niedrigen Niveau, der politischen Geringschätzung der Menschenrechte und der
unterschiedlichsten Bedrohung der Menschenwürde trat eine neue Situation, die
den angesiedelten jüdischen Gemeinschaften all das zubilligte, was ihnen das
Umfeld des alten Zentrums verwehrt hatte oder nicht zu bieten vermochte. Dies
gilt, in abweichender Form, auch für Israel und die Vereinigten Staaten. Damit
hat erstmals in der galut-Geschichte eine Epoche begonnen, in der die Juden
unter den gleichen Bedingungen wie ihre Umwelt ihr Schicksal gestalten und sich
an der Gemeinschaftsarbeit der universellen Geschichte beteiligen können. Noch
weiter weist vielleicht folgendes Moment in dieser Schicksalswende: Während das
Umfeld des alten, osteuropäischen Zentrums und damit auch der weltliche jüdische
Alltag an das europäische Mittelalter beziehungsweise den Übergangszustand
zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit anknüpfte, fanden die beiden
Brennpunkte, die das Zentrum ablösten, in der Elite der modernen Gesellschaft
eine Heimstätte. Dieser Umstand könnte das Verhältnis zwischen Sakralität und
Säkularität innerhalb des Judentums langfristig grundlegend verändern.
Das
seelisch-geistige Trauma der Shoa enthielt auch für den überlebenden Einzelnen
Elemente, die in die Geschichte mündeten. Im großen und ganzen verstärkte diese
Wirkung die bereits vorhandenen Tendenzen: die Engherzigen wurden noch enger,
die Weitherzigen noch weiter. Mit letzteren brauchen wir uns hier nicht näher
zu beschäftigen; diejenigen, die es angeht, können sie und alles, was die Weitherzigen
vertreten, durch folgenden Hinweis aufspüren: die Tiefe ruft die Tiefe, die
Weite ruft die Weite. Übrigens veranschaulicht das vorliegende Buch sogar
mehrfach, worum es hierbei geht. Ersteres trat vor allem auf der breiten Skala
der Entfremdung in Erscheinung. Manche entfremdeten sich ihrem Umfeld - und
auch das auf einer breiten Skala: vom kindlichen Schmollen bis zur
zerstörerischen Wirkung des Ressentiments. Ein anschauliches Beispiel für das
kindliche Schmollen bieten diejenigen, die sich der deutschen Sprache
entfremdeten, die sich weigerten, Deutsch zu sprechen oder auch nur Deutsch zu
hören. Wer könnte ihnen das verübeln. Diese Entfremdung war authentisch: Sie
läßt sich einwandfrei ableiten von der Logik der ihres Raumes beraubten Emotionen,
die der schwarze Mythos der blinden Qual induziert - ebenso wie der farbige
Urmythos des Leids, der sich im Raum und im prismatischen Medium der Freude
bricht, die Logik des Geistes induziert. Die Engherzigen produzierten noch
schlimmere Symptome der Entfremdung. Manche entfremdeten sich ihrer
nichtjüdischen Umgebung - die ungarischen Juden dem nichtjüdischen Ungartum -,
manche entfremdeten sich dem eigenen Judentum, manche entfremdeten sich Gott.
All das beschränkte sich nicht auf jene, die selbst durch die Hölle der
Konzentrationslager gegangen waren. Vielmehr konnte es auch jenen als Alibi vor
sich selbst dienen (den historischen Geschehnissen zufolge dürften es nur
wenige gewesen sein), die bloß die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, um
Laufbahnen einzuschlagen, die ihnen vorher verschlossen waren. So erlangten
Juden in relativ großer Zahl ("gemäß ihrem prozentuellen Anteil" -
wie die absurde und willkürlich kreierte Kategorie lautete) Machtpositionen,
die ihnen Haß einbrachten. Da gab es nicht nur brutale Karrieristen, sondern
auch Schöngeister, die sich selbst überzeugten, daß sie ihrer Überzeugung nach
einer edlen Sache dienen und daß sie die Wahrheit verkörpern, denn: Gewissen
und Überzeugung lassen sich gleichermaßen leicht korrumpieren, ein schlummerndes
Gewissen ist leicht zu verwechseln mit einem guten Gewissen, und das stolze
Selbstbewußtsein, die Wahrheit zu verkörpern, erreicht man leicht durch
Selbsttäuschung.
Mutatis
mutandis wirkte ein ähnlicher Mechanismus auch in denjenigen, die sich ihrem
Judentum entfremdeten. Nur spielte bei ihnen nicht Karriere-Gier, sondern
Einschüchterung die entscheidende Rolle. Hier wie dort setzte natürlich eine
enge Seele die Apostasie voraus. Längst war der Weg geebnet für die so bequem
anmutende Lösung des Glaubensabfalls. Schließlich hatte es in der ganzen
galut-Geschichte immer wieder Verfolgungen gegeben; die jetzige mag die
allerschlimmste gewesen sein, nicht aber die allererste. Diese Überlegung bewog
viele, ein Leben mit "falschen Papieren" zu beginnen. Sie
konvertierten oder säkularisierten und verschwiegen ihr Judentum oft sogar den
eigenen Kindern. So entstand - wichtig für den Epochenwechsel in der jüdischen
Geschichte - die Schicht der Menschen "jüdischer Abstammung", die
sich (völlig zu Recht) von den Juden abgrenzen und doch nicht abgrenzen. Dieses
Niemandsland zwischen Juden und Nichtjuden bedeutet häufig nicht nur ein
schwieriges inneres Problem für die zweite Generation der Religionsfernen,
sondern auch eine komplizierte Aufgabe für die geistige Gemeinschaft der Juden.
Den
Schlüssel zu all dem, was ich hier angeführt habe, liefert letztlich das
Problem der Krise des Symbols. Ich sprach von der Entropisierung des Symbols
als drittem Auslöser für den Epochenwechsel in der jüngsten Geschichte des Judentums.
Die Entropisierung als drohender "Hitzetod" ist noch keine
geschehene, abschließende Phase der Geschichte des Symbols, sondern erst eine
Tendenz. Ein Prozeß, gleichaltrig mit der Säkularisierung, aber nicht identisch
mit ihr. Die Säkularisierung an sich betrifft nur eine Gruppe der
althergebrachten, Bedeutung ausstrahlenden Symbole, freilich jene, die
letztlich allen Symbolen Sinn verleiht.
Symbole
können nur mit Symbolen beschrieben werden. Versucht man es mit mehr oder
weniger desymbolisierten Zeichen, ist die Beschreibung in entsprechendem Maße
verfehlt. Symbole sind ebenfalls Zeichen, aber Zeichen, die etwas bergen: eine
Kette verborgener Bedeutungsschichten, die alle über sich hinaus weiterdrängen,
zu einer noch tiefer verborgenen - und universelleren - Bedeutungsschicht.
Symbole sind Zeichen, die eine unendliche Kette verbergender Zeichen bergen.
Als Zeichen zeigen sie etwas an, aber als Symbole zeigen sie auch an, daß sie
etwas verbergen, nämlich diese unendliche Kette der verbergenden Zeichen. Ein
Symbol zeigt also nicht weniger als ein konventionelles Zeichen an, sondern
mehr: es zeigt auch an, daß es verborgene Schichten enthält und daß auch diese
Schichten verbergende Zeichen sind. Seine Verbergung zeigt an, und seine
Anzeigung verbirgt - und beide fordern auf.
Sie
fordern auf zum Durst - aber auch dieses Wort ist hier Symbol. Durst sei ein
Beweis der Existenz des Wassers, sagt Franz Baader. Er meint es als
Gottesbeweis, aber uns interessiert das jetzt nur insofern, als er ein Symbol
durch ein Symbol beweist: das verbergende Zeichen der Existenz des Wassers
durch das verbergende Zeichen der Existenz des Durstes. "Aus dem Durst
bereiten wir uns einen Trunk", spann Lajos Szabó den Gedankengang von
Franz Baader weiter. Aus demselben Grund wie wir uns aus Durst einen Trunk
bereiten können, ist der Durst ein Beweis der Existenz des Wassers. Der Durst
selbst ist das Wasser, sobald seine Existenz als Mangel seiner selbst auftritt.
Um bei der Dimension des Symbols zu bleiben: Im Durst ruft - trinkt - der
Urozean sein zu Flüssen zerrissenes Sein in sich zurück; und weil er als Mangel
seiner selbst in den Flüssen präsent ist, geht dieser Ruf weiter von Fluß zu
Fluß, von Durst zu Durst.
Im
Durst, zu dem das Symbol auffordert, dürsten wir nach dem Sein, und zwar nach
jener verborgenen Dimension des Seins, die im Symbol über sich selbst hinaus
weiterdrängt zu einer noch tiefer verborgenen Dimension. Dieses Sein ist kein
Minimum an Sein, sondern ein Maximum an Sein: wachsendes Sein. Minimum und
Maximum drücken keinen Zustand, sondern eine Bewegung aus: Seinsminimum ist
schrumpfendes Sein, Seinsmaximum ist wachsendes Sein. Das Wachstum des Seins
ist gleichzeitig das Wachstum der Gemeinschaft. Parmenides spricht von der
Identität des Seins und des Denkens. Wenn wir stattdessen von der Identität des
Seins und der Gemeinschaft sprechen, drücken wir uns weitläufiger aus, weil der
Sinn der "Gemeinschaft" auch das "Denken" einschließt.
Dieses Denken drängt über sich hinaus weiter zu einer noch tiefer verborgenen
Bedeutung. So wie das Symbol und das Denken unendlich sind, ist auch die
Gemeinschaft unendlich: unendlich potenzierbar und depotenzierbar. Die
Gemeinschaft ist Subjekt und Objekt des Durstes - auch die Gemeinschaft in
jedem einzelnen Menschen: das nenne ich Persönlichkeit. Das
Gemeinschaftsmaximum dürstet es nach dem größten Durst, das
Gemeinschaftsminimum nach dem kleinsten. In ersterem absorbiert der größere
Durst den kleineren, in letzterem zerstreut er sich in kleinere: der kleinere
Durst macht den größeren vergessen. Der eine bereitet sich einen Trunk aus dem
größtmöglichen, der andere aus dem kleinstmöglichen Durst.
Die
Krise des Symbols, die in ihrer Tendenz die Entropisierung, der Hitzetod, die
Auskühlung des Symbols ist, zeigt den Weg aus dem größeren Durst in den
kleineren. Dieser Weg ist die Entkörperung des Geistes. Das Symbol ist der
Körper des Geistes; dies verleiht ihm seine entscheidende Bedeutung, und darin
liegt das Geheimnis seiner vieltausendjährigen Rolle.
Das
Mysterium des Körpers ist das Mysterium des Lebens; das Mysterium des
lebendigen Körpers ist auch das der Liebe; und das Mysterium der Liebe ist das
Gleichnis vom Durst auf den größten Durst. Wenn das Symbol zum Durst
auffordert, wird das von den zur Symbol-Gemeinschaft Gehörenden tief in ihrer
Seele so empfunden, als würde sie ein junger Körper zur Liebe auffordern. Das
Symbol erfüllt die Botschaft des Geistes mit Eros, die Bedeutung mit
Bedeutsamkeit. Denn jede Bedeutung, die das Symbol vermittelt, bezieht Wärme
vom lebendigen Körper des Geistes.
Die
Entropisierung des Symbols ist also der Wertverlust einer bestimmten
Geistesform innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft. Ich sprach von ihr als
einem Auslöser des Epochenwechsels in der jüdischen Geschichte, doch eigentlich
handelt es sich um einen Prozeß, der sich nicht auf das Judentum beschränkt,
sondern die gesamte westliche Kultur betrifft. Gleichwohl ist es berechtigt,
sie als einen Hauptfaktor der jüngsten Geschichte des Judentums besonders
hervorzuheben; nicht nur, weil sie das Judentum wegen seiner relativ geringen
Anzahl und seiner intensiven geistigen Teilhabe stärker angehen dürfte, sondern
vor allem, weil Judentum eine unteilbare Einheit von Religion und Volk ist und
diese Daseinsform dem Symbol im Hinblick auf die Wahrung der Identität eine
viel vitalere Aufgabe verleiht als im Falle anderer Gemeinschaften. Die
Identitätsstörung, die heute bei den osteuropäischen Juden in Erscheinung
tritt, ist zum Großteil dadurch bedingt, daß für sie die Evidenz, sich als
Symbol-Gemeinschaft zu offenbaren, einerseits infolge des politischen Drucks
während der letzten Jahrzehnte und andererseits wegen der unterbrochenen
Kontinuität unmittelbar vor dem Krieg und in den Kriegsjahren verloren ging.
Unberührt
von diesem Problem bleibt derzeit nur die Orthodoxie, und für Israel gilt
insofern eine Sonderstellung, als es die Wirkung, die der Wertverlust des
Symbols verursacht, vorerst neutralisieren kann. Allerdings hat die Symbolkrise
eine so große Tragweite, daß es der geistigen Anstrengungen aller Richtungen
des Judentums bedarf, wenn sie sich nicht zu einer allgemeinen Krise des
Identitätsbewußtseins ausweiten soll.
Aus dem Ungarischen von Madeleine Merán
[1] Damalige Diskussionen drehten sich gewöhnlich um die Frage, ob das Judentum Religion oder Rasse sei. In dem Studienband "Zsidókérdés, asszimiláció, antiszemitizmus" (Judenfrage, Assimilation, Antisemitismus) (Gondolat Kiadó, 1984) wird darauf hingewiesen, daß Begriffe wie "Rasse" oder "Art" im zeitgleichen Wortgebrauch nichts mit der späteren rassistischen Auslegung gemein hatten. Vor 1918 wurde das Wort Rasse generell im Sinne von "Nationalität", "Ethnie" verwendet. (S. 16) Und ohne jeden rassistischen Unterton gebrauchte man dieses Wort auch nach 1918 bei den internen Debatten um die Sachlage des Judentums; vielleicht, weil "jüdisches Volk" als biblischer Begriff zu den religiösen Überlieferungen zählte und von beiden Seiten als Bezeichnung für das Judentum akzeptiert wurde, sich also nicht eignete, die Gegensätze zwischen den Anhängern und den Gegnern der Assimilation hervortreten zu lassen. Als in "Zwei Wege des Judentums" die Deutung der Rasse als Blutsgemeinschaft verworfen wurde, ging es nicht nur um die Auseinandersetzung mit Antisemiten.